Dienstag, 13. November 2012

Gesunder Pragmatismus



Gesunder Pragmatismus
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 23/2012)
Ein offensichtlich gut betuchter Tischnachbar - sein Name ist mir längst entfallen - antwortete auf meine Bemerkung, im Spielkasino unseres Kreuzfahrtschiffs, wo er Abend für Abend seinen Nervenkitzel suchte, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Geld verlieren als gewinnen: „Eine alte Regel besagt, man soll nur mit dem Geld spielen, das man übrig hat.“ Dieser Satz kam mir oft wieder ins Gedächtnis, seitdem der Begriff „Kasino-Kapitalismus“ Mode wurde; auch kürzlich wieder, da viel über die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank debattiert wird. Deren Chef, Mario Draghi, wurde unter andrem von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz kritisiert, weil die Programme der EZB zur Bekämpfung der Eurokrise "reine Geschenke an die Banken" seien. Dem widersprach nun der Sprecher für Finanzpolitik in der Bundestagsfraktion der Linken, Axel Troost, mit der Bemerkung, in einer Krise müsse der Staat den Banken notwendige Liquidität bereitstellen, weil sonst das Bankensystem zusammenbricht.
Troosts Ergänzung, weil von funktionierenden Banken aber nicht nur indirekt die Gesamtwirtschaft, sondern vor allem direkt die Banken selbst profitieren, gehörten diese in öffentliches Eigentum und unter gesellschaftliche Kontrolle, damit die „Geschenke" letztlich an die Öffentlichkeit fallen, zeugt von einem gesunden Pragmatismus. Hinzuzufügen wäre noch, dass die Finanzen bisher den wohl am wenigsten vom Staat kontrollierten und reglementierten Bereich der Wirtschaft darstellen. Hier wird die „private“ Kuh noch am meisten geheiligt – sicher deshalb, weil in der heutigen Gesellschaft das Geld der Inbegriff von Eigentum und Reichtum ist, wenigstens in den Köpfen der Menschen. Ist er es aber auch wirklich? Wohl schon lange nicht mehr!
Die Geschichte lehrt etwas anderes. Darum kann der Linken-Politiker zu Recht von einer „krankhaften Inflationsparanoia“ in Deutschland sprechen. Hierzulande ist geldpolitisches Denken noch immer von den traumatischen Ereignissen vor 90 Jahren geprägt. Die damalige Hyperinflation war ein enormes ökonomisches Nachbeben der gewaltigen gesellschaftlichen Eruption, die der erste Weltkrieg dargestellt hatte. Heutige Inflationstendenzen sind damit nicht vergleichbar; weder dem Umfang nach noch was den Mechanismus in der Wirtschaft betrifft. Was wir in den Jahrzehnten seit der Währungsreform von 1948 erlebt haben, wird von Unternehmerseite gern als Lohn-Preis-Spirale bezeichnet, vom Lager marxistischer Politökonomen dagegen als Preis-Lohn-Spirale. Egal wie – beide Sichtweisen deuten auf einen wesentlichen Zusammenhang von Löhnen und Preisen hin, weshalb, das sei hier nur am Rande bemerkt, eigentlich zu fragen wäre, ob diesem Sachverhalt noch die Werttheorie von Karl Marx gerecht wird. Diese entsprach zwar bei ihrer Formulierung den damaligen Verhältnissen, aber letztere haben sich ganz offensichtlich wesentlich verändert. Der über Jahrzehnte festzustellende Zusammenhang von Lohn- und Preisentwicklung sollte uns zeigen, dass nach rund zwei Jahrhunderten wir es heute nicht mehr mit dem klassischen Austausch von Waren nach dem Wertgesetz, sondern mit einer besonderen Art gesellschaftlicher Buchführung in der Wirtschaft zu tun haben, die erstens ein Produkt ebenfalls eines gewissen Praktizismus‘ während des Kalten Krieges bzw. des ökonomischen Wettbewerbs zwischen Ost und West gewesen sein dürfte, zweitens die positiven Effekte der „sozialen Marktwirtschaft“ im Zuge eines ziemlich krisenfreien Wirtschaftsaufschwungs ermöglichte und drittens alle – Arbeitsvolk und Unternehmer – ständig reicher werdend erscheinen ließ, obwohl die Kluft zwischen besser Verdienenden und schlechter Gestellten immer größer wurde.
Auf diese Weise stieg nicht nur der Konsum, sondern sogar auch der angehäufte Reichtum, wenn auch großenteils in Gestalt von Geld und Finanzwerten. Denn deren ungleiche Verteilung hatte zur Folge, dass die Einen mit ihrem Einkommen kaum zurechtkamen, sich vielfach verschuldeten, sogar Staaten, während die Anderen mehr einnahmen als sie auf dem Warenmarkt auszugeben vermochten, weil ihre aktuellen Bedürfnisse im Wesentlichen befriedigt waren. Sie hatten es, wie mein eingangs erwähnter Mitreisender schlicht sagte, übrig. Ihr vieles Geld beschleunigte eben nicht die Inflation auf dem Warenmarkt. Es wurde vielmehr auf dem Finanzmarkt „investiert“.
Dieser saugte, durch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch US-Präsident Nixon entfesselt, wie ein Schwamm überschüssiges, profitable Verwertung suchendes Geld auf. Findige „Finanzexperten“ erfanden für diesen Zweck „Finanzprodukte“, Fonds, mit denen der Finanzmarkt zum globalen Kasino verkam, das Geld aus dem Nichts schafft. Die Finanzblasen, die es erzeugt, sind nur deshalb ein Problem, weil dieses Kasino keinen geschlossenen Raum darstellt, in welchem nur gespielt, gepokert wird, sondern über die Banken auf vielfältigste Weise mit dem realen Wirtschafts- und gesellschaftlichen Leben verbunden ist, bis hin zum Gesundheits- und Rentensystem. Darum sind, wie vielfach gefordert wird, Geschäfts- und sogenannte Investmentbanken sauber zu trennen und darf die Zentralbank nicht tatenlos zusehen, wenn süchtige Hasardeure des Finanzmarkts auf der irrationalen Jagd nach Profiten und Renditen ganze Staaten ins Chaos zu stürzen drohen.
Gewiss, die Aktionen der EZB und der Europäischen Union zur Bekämpfung der Krise sind bei weitem nicht ausreichend und bedürfen struktureller Ergänzungen, die das Banken- und Finanzsystem rechtlich und in seinem Wesen durch Anerkennung seines gesellschaftlichen, nicht privaten Charakters verändern. Aber die Verhinderung eines allgemeinen Chaos‘ in Europa durch die Zentralbank ist ein allererster, wenn auch äußerst kleiner praktischer Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn ihre „Geldgeschenke“ vorerst dem Gemeinwesen bestenfalls indirekt zugutekommen, werden sie keine Inflation auf dem Warenmarkt entfachen, sondern wie anderes „überflüssiges“ Geld den Finanzmarkt weiter aufblasen. Denn die „Gefahr“, dass sie letztlich bei den wirklich Bedürftigen dieser Gesellschaft ankommen und damit das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Warenmarkt aus dem Gleichgewicht bringen, so dass die Preise steigen, ist äußerst gering. Bezeichnend ist bei der ganzen Angelegenheit, dass die deutsche Regierungskoalition mit ihrem Widerstand gegen den Praktizismus der EZB in der EU weitgehend isoliert ist. Sie leidet an Realitätsverlust, weil sie von einer realitätsfremden Ideologie getrieben wird, der das private Sein und Tun sakrosankt ist. 


Dazu schrieb Werner Richter im "Blättchen"-Forum:


Werner Richter sagt:

Alter – veralteter – Marx?

Im Nebensatz hat Heerke Hummel eine Hypothese wiederholt, bei der mir regelmäßig unwohl wird.
„Egal wie – beide Sichtweisen deuten auf einen wesentlichen Zusammenhang von Löhnen und Preisen hin, weshalb, das sei hier nur am Rande bemerkt, eigentlich zu fragen wäre, ob diesem Sachverhalt noch die Werttheorie von Karl Marx gerecht wird. Diese entsprach zwar bei ihrer Formulierung den damaligen Verhältnissen, aber letztere haben sich ganz offensichtlich wesentlich verändert. Der über Jahrzehnte festzustellende Zusammenhang von Lohn- und Preisentwicklung sollte uns zeigen, dass nach rund zwei Jahrhunderten wir es heute nicht mehr mit dem klassischen Austausch von Waren nach dem Wertgesetz, sondern mit einer besonderen Art gesellschaftlicher Buchführung in der Wirtschaft zu tun haben, die erstens ein Produkt ebenfalls eines gewissen Praktizismus‘ während des Kalten Krieges beziehungsweise des ökonomischen Wettbewerbs zwischen Ost und West gewesen sein dürfte, zweitens die positiven Effekte der „sozialen Marktwirtschaft“ im Zuge eines ziemlich krisenfreien Wirtschaftsaufschwungs ermöglichte und drittens alle – Arbeitsvolk und Unternehmer – ständig reicher werdend erscheinen ließ, obwohl die Kluft zwischen besser Verdienenden und schlechter Gestellten immer größer wurde.“ *
Ich kann mir nicht helfen, wie ich es drehe und wende, immer verstehe ich: Das Wertgesetz ist überholt, Lohn-Preis-Verhältnis, jetzige Formen des Geld(ersatz)es und sogar das Konstrukt „Soziale Marktwirtschaft“ haben das Wertgesetz nivelliert, es ist letztendlich unbedeutend. Gut, auch das „Wertgesetz“ ist nur eine subjektive Widerspiegelung der objektiven Realität wie alle derartigen „Gesetze“, kein Heiligtum. Man muß es immer wieder hinterfragen, da irren menschlich sein soll. Habe ich aber etwas verpaßt, ist die Selbstverwertung des Wertes nicht mehr alleiniger Zweck der aktuellen Stufe der Warenproduktion, die Bedürfnisbefriedigung nicht mehr nur ein zweitrangiges Abfallprodukt dieser? Dreht sich der Finanzzirkus nicht um den vorrangig zu stellenden Anspruch des Finanzkapitals auf letztlich alle gesamtgesellschaftlich geschaffenen Werte, nebenbei die Ansprüche, mit Geld, Spareinlagen und Kleinbesitz scheinbar gesichert, des restlichen Grobzeuges, also unsereins, perspektivlos zu stellen, denn alle Ansprüche sind ja nun mal nicht durch die Weltwertsumme gedeckt? Würde es ohne die Wertschaffung überhaupt ein Finanzcasino geben?
Die eigentlich logischen Antworten suggerieren mir eine wachsende Rolle dieses unsichtbaren Verwertungsprozesses und des Wertes, er kann nicht sekundär geworden sein, im Gegenteil. Nur spielt sich der Kampf um die Verfügungsgewalt über die Werte immer mehr im Finanzbereich ab, wird die konzentrierte Finanzgewalt drohend aufgebläht. Wir dürfen uns nicht von den schier unglaublichen Vorgängen der grotesken Geldvermehrung hypnotisieren lassen, die sagen nicht viel, weisen nur auf die falsche Fährte. Gierige Finanzmanager sind nicht das Krisen gebärende Übel unserer so marktwirtschaftlich sozialen Welt, genau diese werden „gehiret“, um der Zwickmühle der gefährlich gewachsenen Dysfunktionalität des kapitalistischen Zyklus zu entgehen, und um anschließend, es gelingt nie, die Watschenmannrolle zu übernehmen. Ich entsinne mich eines länger zurückliegenden Interviews eines 3-D-Journalisten [(D)Treu-Deutsch-Doof] mit Allan Greenspan, der nach kurzem Nachdenken zur Frage: Wie wird die Wirtschaftswelt in 50 Jahren aussehen? nur zu sagen wußte: Ach, ich wundere mich jeden Morgen, daß der Laden immer noch läuft! Er gab dann auch brav nach dem Crash den reuig Gierigen. Zur zweiten unerläßlichen Manipulationsrichtung werden die Thesen: die Wirtschaft findet an der Börse statt wie der Krieg wegen Regens im Saal, Werte werden heutzutage mit dem „shareholder value“ geschaffen und nicht wie zu Marx´Zeiten durch menschliche Arbeit zur Herstellung materieller Güter für die Warenmärkte, perfider weise indirekt und damit sehr wirkungsvoll wie Landregen in unsere Köpfe getröpfelt. Es soll im Dunklen bleiben, daß ein prinzipieller Endkampf um die absolute und unangreifbare Allmacht der Finanzmächte in vollem Gange ist. Wenn man sich die im Vordergrund ablaufenden Konflikte unter Hinzuziehung anderer, still, aber mit riesigem Aufwand betriebenen Vorstöße, wie z.B. dem M.A.I. **, durchdenkt, werden ganz andere Zusammenhänge sichtbar. Das wäre ein lohnendes Feld für weitere Artikel, Albrecht Müller und Heiner Flassbeck haben schon vor einiger Zeit auf diese Vorgänge aufmerksam gemacht. ***
Alle ernst zu nehmenden Ökonomen, die sich nicht auf die lukrative machtdiktierte neoklassische Linie des Seriositätsverzichts eingelassen haben und dem objektiv gesetzmäßigen Wandel der Gesellschaft weiter auf der Spur sind, treffen sich in der Annahme, daß eine innere Veränderung der Produktivkräfte stetig abläuft, die ein allmähliches Aufkeimen neuer technischer Elemente in den Warenproduktionsbeziehungen hin zu deren Aufhebung erbringt, ohne Selbstauflösung der Produktionsverhältnisse zu bewirken. Sie suchen nach den Transmissionspunkten in den jetzigen ökonomischen Strukturen, an denen dieser Prozeß abläuft. Nach aller Erkenntnis werden diese „in der Veränderung der Funktion und Stellung des Geldes als gesellschaftlich Allgemeines (d. h. als allgemeines Äquivalent und allgemeine Ware) und in der Auflösung der abstrakten und virtuellen Formen des gesellschaftlichen Reichtums besteh(en)t.“ **** Damit beschäftigt sich Heerke Hummel schon viele Jahre, womit er auf der richtigen Spur sein wird. Er hat aber hier entweder die Werttheorie etwas voreilig fallen gelassen oder fragt genau nach diesen Transmissionspunkten. Wir können wohl, wie in jeder anständigen Gesellschaft, das Wirken gegenläufiger Tendenzen konstatieren und es wird sich zeigen, welche zum Schluß die Oberhand gewinnt, wie auch Hobsbawm meinte. Jedoch zum Trend der Auflösung der Wertverhältnisse sind bisher nur technische Vorgänge, keine gesellschaftlichen festzustellen. Der Trend zur wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der Wertverhältnisse wird dadurch noch nicht gestört.
So einfach, die Werttheorie unbegründet nur für Marxens Zeiten gelten zu lassen, da mit heute nicht vergleichbar, ist es wohl nicht getan. Das hieße, Marx zum anfangskapitalistischen Wirtschaftstheoretiker abzustufen. Noch zu Marxens Lebzeit gingen seine „Töter“ so vor und sie tun es noch heute auf die suggestive Wirkung dieser Parole bauend, denn diese geschluckt, kräht kein Hahn mehr nach einer halbwegs tiefer gehenden Begründung. Um Marxens Willen unterstelle ich Heerke eine solche Intention nicht, aber ein bißchen in diese Richtung zu schielen ist er schon leicht gefährdet. Zumindest ein Hinweis auf diese Gefahr ist wohl angebracht. Also, um mich vom Nichtmehrgelten des Wertgesetzes zu überzeugen, bedarf es schon weit stärkerer Geschütze mit Tiefenwirkungsmunition. Dann aber bitte mit dem Nachweis, was den Wert abgelöst haben und welche Gesetzmäßigkeiten an Stelle des Wertgesetzes getreten sein sollten. Das würde zwangsmäßig auch den Nachweis erfordern, daß und wie sich das gesellschaftliche Verhältnis von relativer Wertform (Aktivum) und Äquivalentform (Passivum) der Ware in der gesellschaftlichen Vermittlung (Selbstvermittlung des Wertes) umgekehrt hat und die Äqivalentform der Ware, bisher passiv, nur durch Anforderung als Vermittler in diese Beziehung getreten, also ohne eigenes Zutun, die Wertformen dominiert. Aus einer Entwicklung der die Warenproduktion zunächst nicht widerspiegelnden Finanzbranche, ungeachtet der inzwischen komplexen Verbindungen zwischen Finanz- und Produktionswelt, auf eine fundamentale Veränderung des Basisverhältnisses der Warenproduktion zu schlußfolgern, ist schon etwas gewagt. Es sind hiermit auch prinzipielle gesellschaftlich philosophische Fragen berührt, die Verhältnisse von Ursache und Wirkung, Basis und Überbau, Sein und Bewußtsein, Idealismus und Materialismus.
Wir sprechen hier „nur“ über Wertformen, nicht über die Wertsubstanz. Deren „Verschwundensein“, darauf läuft die obige Hypothese letztendlich hinaus, nachzuweisen, würde noch gewaltigere Anstrengungen erfordern, deren Aussicht auf Erfolg ich stark bezweifle. Marx hat eben nicht einen historisch begrenzten Zeitraum mit begrenzter Gültigkeit interpretiert. Er hat eine hohe, oder tiefe (je nach Blickwinkel) Abstraktionsstufe in der Gesellschaftsanalyse der Warenproduktion angestrebt und tatsächlich auch zuwege gebracht, daß jede Reduzierung seiner Darstellung auf frühkapitalistische Produktionsverhältnisse geradezu lächerlich ist. Marx hat ganz bewußt die konkreten Formen der damaligen Produktionsverhältnisse ignoriert und so das Allgemeine, Wesentliche der gesamten Gesellschaftsformation, vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte absehend, herausgekitzelt. Er hat das Wesen aller Warenproduktionsformen, nicht nur der kapitalistischen, aufgedeckt und zusätzlich die Grundstrukturen der Vor- und Nachwarenproduktion. Vieles, was er im „Kapital“ stark komprimiert uns zur Verdauung übergab, hatte er vorher in den Grundrissen und Manuskripten umfassender dargestellt. Diese Arbeiten kann man in der ökonomischen Diskussion nicht beiseite lassen. Ich bin dafür, erstmal Marxens Theorie in ihrer Komplexität zu erfassen, was bis heute nur ungenügend geschehen ist, trotz der Versuche von Generationen marxistischer Wirtschaftswissenschaftler, bevor man sie zu begraben beginnt. Heinrich Harbach stellt angesichts der Tonnen beschriebenen Papieres in der Wirtschaftstheorie betrübt fest: Als ob „Das Kapital“ nie geschrieben worden sei! Dem kann ich mich nur anschließen. Man kann moderne Erscheinungen in der Wirtschaftswelt getrost von der Marxschen Theorie her angehen, ohne sich der Gefahr einer falschen Richtung auszusetzen, mit anderem Ansatz schon.
Es ist zu hoffen, daß in dem bald, schätzungsweise in 2 bis 3 Monaten, beginnenden Diskussionsforum „Wirtschaftstheorie“, das an das Blättchen angedockt sein könnte, diese Diskussion fortgesetzt und auch andere Themen angegangen werden.
* Heerke Hummel, Gesunder Praktizismus, in „Das Blättchen“ Heft 23 Jahrgang 2012
** Multilateral Agreement on Investments
** *Albrecht Müller, Meinungsmache, Knaur Taschenbuchverlag,Dezember 2010
Heiner Flassbeck, Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts, Westend Verlag GmbH, 2010
**** Heinrich Harbach, Brief zu: Wirtschaft ohne Markt – Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Karl Dietz Verlag Berlin, 2011



Meine Antwort an Richter im Forum des "Blättchens":

Weiterzudenkender Marx

Lieber Werner Richter, Dein Beitrag „Alter – veralteter – Marx“ im Forum (23. 12. 12) macht auf ein wichtiges theoretisches Problem aufmerksam, das meines Erachtens von marxistischen Ökonomen als solches nicht angesehen wird, weil Zweifel daran, dass die zentralen Erkenntnisse von Karl Marx über die Gesetzmäßigkeiten bürgerlich-kapitalistischer Produktionsweise die ökonomische Realität des beginnenden 21. Jahrhunderts noch ausreichend zu erklären vermögen, verbreitet als unmarxistisch gelten, für „Revisionismus“ gehalten werden, für Verrat an Marx und Dienst am Kapital. Und vor allem scheint ja der Irrsinn in der heutigen Finanzwelt die volle Noch-Gültigkeit der Marxschen Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses in einem Maße zu bestätigen wie schon lange nicht mehr.
Gewiss, ohne Marx ist auch die heutige Realität nicht zu erklären, jedenfalls nach meinem Dafürhalten nicht richtig. Aber nur mit Marx eben auch nicht, und es kommt darauf an, auf Marx aufbauend weiterzudenken und in der heutigen Gesellschaft, in ihren ökonomischen Grundverhältnissen die grundsätzlichen Bedingungen einer neuen Gesellschaft zu erkennen, die Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms als eine Gesellschaft charakterisierte, „wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent … von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert …, und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmittel soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet.“
Mir ist durchaus bewusst, dass Marx in diesem Zusammenhang von entsprechenden rechtlichen Regelungen bezüglich des Eigentums ausging. Deshalb habe ich mit meiner oben gemachten Aussage über die heutige Gesellschaft diese auch nur hinsichtlich ihrer ökonomischen (nicht ihrer juristisch fixierten) Grundverhältnisse im Auge, ohne Berücksichtigung deren juristischer Fixierung eben. Zwischen beidem klafft heute ein eklatanter Widerspruch, den es zu beseitigen gilt.
Doch zurück zur ökonomischen Basis! Ja, Du hast Recht, die Selbstverwertung des Wertes ist auch heute noch alleiniger Zweck der Produktion, die Bedürfnisbefriedigung nur ein zweitrangiges Abfallprodukt dieser. Doch auch dies nur auf der Ebene subjektiver Wahrnehmung von Interessen! Objektiv, real, hat das, was heute in den vermeintlichen Wertbildungs- und Verwertungsprozessen vor sich geht, so gut wie nichts mehr zu tun mit wirklicher Vermehrung von Reichtum. Es sind Illusionen, gestützt durch Illusionisten einer fehlorientierenden, meinungsbildenden Wissenschaft.
Auch sehe ich – wie Du -, „daß ein prinzipieller Endkampf um die absolute und unangreifbare Allmacht der Finanzmächte in vollem Gange ist.“ Gleichzeitig ist aber wohl nicht zu übersehen, dass ein starkes internationales Bemühen auf allen Ebenen und in verschiedensten Bereichen im Gange ist, globale Probleme durch Absprachen organisatorisch zu lösen bzw. in geordnete Bahnen zu lenken.
Gern erbringe ich Dir nun den gewünschten „Nachweis, was den Wert abgelöst haben und welche Gesetzmäßigkeiten an Stelle des Wertgesetzes getreten sein sollten. Das würde zwangsmäßig auch den Nachweis erfordern, daß und wie sich das gesellschaftliche Verhältnis von relativer Wertform (Aktivum) und Äquivalentform (Passivum) der Ware in der gesellschaftlichen Vermittlung (Selbstvermittlung des Wertes) umgekehrt hat und die Äquivalentform der Ware, bisher passiv, nur durch Anforderung als Vermittler in diese Beziehung getreten, also ohne eigenes Zutun, die Wertformen dominiert.“
Ein gedachtes Beispiel aus der Zeit, da das Abkommen von Bretton Woods noch galt, also sagen wir Januar 1971, als die USA gemäß genanntem Abkommen noch je 35 US-Dollar gegen 1 Feinunze Gold rücktauschten:
1 Paar Schuhe = 35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold
In dieser Formel bzw. Gleichung standen die Schuhe nach Marx in der relativen Wertform, weil ihr Wert nur relativ, also im Gebrauchswert von 1 Feinunze Gold ausgedrückt wurde (während ihre Wertsubstanz in einer bestimmten Menge in ihnen vergegenständlichter, gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeit bestand; und zwar in der gleichen Menge wie in dem Gold vergegenständlicht, denn sonst wären die beiden verschiedenen Waren nicht gleich). Die Feinunze Gold stand in der Äquivalentform, denn sie bildete das Wertäquivalent für die Schuhe. Die 35 US-Dollar waren nur die Banknote, das gesetzliche Zahlungsmittel, das den gesetzlich verbrieften Anspruch auf das bei der Notenbank deponierte, wirkliche Gold ausdrückte.
Nach der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods, also sagen wir im Dezember 1971 hatte sich unsere Formel verwandelt in die Gleichung
1 Paar Schuhe = 35 US-Dollar – und basta!
Was bedeuteten, repräsentierten von nun an die 35 Dollar? Möglicherweise
35 US-Dollar = 35 Brote oder 5 Hühner oder ein Damenhut, aber auch 1 Paar Schuhe usw.
In dieser Gleichung gibt es weder eine relative Wertform noch eine Äquivalentform des Wertes. Es kann sie nicht geben, weil der Dollar keinen Wert und Gebrauchswert hat, also gar keine Ware ist, sondern nur Wert (ganz allgemein) und Waren (in ihrer Gesamtheit) repräsentiert. Er repräsentiert nicht mehr das Wertäquivalent einer bestimmten Ware (Gold), sondern aller Waren. Er misst alle auf dem Markt dieses Währungsgebiets befindlichen Waren und setzt sie in Relation zueinander. Das kann er, indem er das ihnen Gemeinsame ausdrückt, darstellt, also die in ihnen vergegenständlichte, gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit. Im Januar 1971 wurde letztere noch im Gebrauchswert des Goldes ausgedrückt (vertreten durch auf das Gold bezogene Dollarnoten) und nun – schlicht und einfach in dem Begriff „Dollar“. Wie aber kann er diese Funktion wahrnehmen, die Arbeitsmenge messen, die er ausdrückt und wie viel Arbeit drückt er aus? Die von ihm repräsentierte Goldmenge hat er seinerzeit nicht gemessen, die wurde ihm vielmehr durch die internationale Vereinbarung von Bretton Woods zugeschrieben. Die von ihm repräsentierte Menge an gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeit dagegen ergibt sich aus dem realen Prozess der Bestätigung bzw. durchschnittlichen Bezahlung von Arbeitsleistungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Es handelt sich dabei um die gesellschaftliche Bewertung und Erfassung von Arbeit in dem heutigen, besonderen System gesellschaftlicher Arbeits- und Leistungsentlohnung sowie gesellschaftlicher Buch- und Rechnungsführung, wie sie sich in dem bestehenden System der Wirtschaftsführung von in hohem Maße eigenverantwortlichen Unternehmern, Managern und sonstigen Leitern, die bestimmte Rechte und Pflichten im Umgang mit den natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen haben. In meinem Buch „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ (Projekte-Verlag, Halle 2005) habe ich diesen Prozess der Verausgabung und Vergegenständlichung der gesellschaftlichen Arbeit sowie ihrer Bewegung durch den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess ganz allgemein dargestellt.
Als im Gebrauchswert des Goldes ausgedrückter Wert wurde die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit in ihrer vergegenständlichten Form gemessen, als in Währungseinheiten ausgedrückter gesellschaftlicher Aufwand wird sie heute dagegen in ihrer lebendigen Existenzweise bewertet, gemessen und erfasst. (Eine wichtige Grundlage ist dabei das Tarifsystem.) Aus diesem Unterschied resultiert auch der in der Realität festzustellende Zusammenhang von Löhnen und Preisen. Dass dieser schon lange vor der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods zu beobachten war, zeigt wie manch anderer Hinweis, dass diese Kündigung nur der letzte Akt eines jahrzehntelangen, schleichenden Prozesses war, in dessen Verlauf das Gold seine messende und über das Wertgesetz regulierende Funktion im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess mehr und mehr verlor (weil die Probe aufs Exempel, der Eintausch der Noten gegen das wirkliche Gold dank des allgemeinen Vertrauens in die Noten immer seltener stattfand), um am Ende aber gerade die offizielle gesellschaftliche Absage von ihm selbst zu veranlassen, weil es den USA darum ging, sich diesen, allen Dollarbesitzern gehörenden Schatz rechtswidrig anzueignen, da das allgemeine Vertrauen infolge desaströser amerikanischer Rüstungs- und Wirtschaftspolitik ziemlich plötzlich verloren gegangen war. Es war das letzte Todeszucken des Wertgesetzes. Dessen regulierendes Wirken ist einer weitgehenden Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion durch eigenverantwortliche Unternehmer und Gesellschaften in vorausschauender Koordinierung (wenn auch in mörderischem „Wettbewerb“) der lebendigen Arbeit mit einem besonderen System gesellschaftlicher Kostenerfassung (von Produktionsstufe zu Produktionsstufe, von Unternehmen zu Unternehmen) gewichen. Staatliche Einflussnahmen spielen dabei auch eine erhebliche Rolle.
Die allgemein bekannten, katastrophalen Mängel bzw. Wirkungen dieses heutigen Gesamtsystems gesellschaftlicher Reproduktion resultieren daraus, dass der sogenannte gesellschaftliche Überbau überhaupt nicht mehr der ökonomischen Basis entspricht. Die wissenschaftliche Durchdringung der Gesellschaft und ihrer Ökonomik befindet sich, soweit sie allgemein meinungsbildend und politikbestimmend ist, auf einem Stand wie vor über hundert Jahren. Die völlig einseitige Orientierung des Bewusstseins der Gesellschaft als ganze wie auch der einzelnen Menschen auf das Individuum und seine Privatheit hat vor allem in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass der Blick auf das Ganze (heute nicht mehr nur der Nation, sondern der Welt) so gut wie verloren ging und, wenn überhaupt, dann aus dem Blickwinkel des (kurzsichtigen) Einzelinteresses gerichtet ist. Hinzu kommt, was die Sache dramatisch verschlimmert und eine Folge wirtschaftswissenschaftlicher Fehlleistungen ist, dass die Veränderungen in der ökonomischen Basis der Gesellschaft nicht begriffen wurden und Geld und Finanzen für Reichtum gehalten werden, dass geglaubt wird, wachsende Finanzberge seien identisch mit zunehmendem Reichtum und Wohlstand, obwohl sie Raubbau an den Ressourcen der menschlichen Gesellschaft und der Natur, deren Verarmung und Vernichtung bedeuten.
Eine Revolution ist daher erforderlich – in der Wissenschaft, im Denken und Handeln der Menschen, in der Politik und in der Gesetzgebung.
 
 

Darauf Bernhard Mankwald:

Lieber Herr Hummel,
mit der Abschaffung des Goldstandards ändert sich auch das Wesen der Zahlungsmittel – soweit stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Ihren Folgerungen aber kann ich mich nicht anschließen.
Ihre Gleichung:
1 Paar Schuhe = 35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold
stimmt in diesen Proportionen natürlich nicht mehr. Aber für die 35 Dollar können Sie auch heute – neben anderen Waren – noch Gold bekommen. Nur ist es je nach Tageskurs nicht mehr 1 Unze, sondern etwa der 50te Teil dieser Menge (Spesen und die in Deutschland auf solche Transaktionen erhobene Steuer nicht mitgerechnet). Wenn Gold also auch nicht mehr als Zahlungsmittel dient – einen Wert verkörpert es mehr denn je.
Diese enorme Verschiebung der Proportionen zeigt einerseits, in welchem Umfang unsere Zahlungsmittel in der Zwischenzeit entwertet wurden. Andererseits deutet sie darauf hin, daß Gold eben nicht in weitgehend automatisierten Fabriken hergestellt werden kann, sondern mit sehr großem Arbeitsaufwand aus immer tieferen Gesteinsschichten herausgekratzt werden muß.
Demgemäß wurde der Eintausch gegen Gold nicht deshalb abgeschafft, weil ohnehin niemand mehr danach verlangte – sondern umgekehrt gerade deshalb, weil zu viele statt Papier reellere Werte sehen wollten. Ich erinnere mich, daß Frankreich unter de Gaulle zeitweilig eine regelrechte Kampagne in diesem Sinne führte.
Die Frage nach dem Wesen des “Geldersatzes”, wie Herr Richter die umlaufenden Zahlungsmittel nennt, ist damit natürlich noch nicht beantwortet. Gerade die “Marx-Fans” sollten sich aber darauf besinnen, welche Bedeutung Marx dem Kreditsystem im Zusammenhang mit der Zirkulation beimaß.
Auf jeden Fall habe ich von Ihren Überlegungen ungleich mehr als von denen des Herrn Burow. Dessen Konzept läuft für meinen Begriff darauf hinaus, auf den Crash zu warten und zu hoffen, daß die Regierungen zur Abwechslung einmal vernünftig werden. Ihre Ideen dagegen geben mir eine Ahnung, in welchem Maße die Produktions- und Zirkulationsverhältnisse bereits dabei sind, die Hülle des bürgerlichen Eigentums zu sprengen.

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